25. – 27. November 2019

„Willkommen im Dschungel“, ruft uns ein Mann mittleren Alters zu, kurz bevor wir den Busbahnhof erreichen. Und genau so fühlt es sich an. Inmitten eines übervollen Marktes, hupender Autos, übel riechender Pfützen, sollen die Busse abfahren – wir finden sie nicht. Ein Mann, der vorher eher unwirsch Geldwechsel anbot, sieht unser Hin und Her und weist uns den Weg. Zwischen Fischen und Gemüse hindurch. Als es wieder hell wird, stehen wir vor den Bussen. „Nach Estelí? – Hierher!“. Alle sind hilfsbereit und die Hilfe, die wir bekommen, ist immer zuverlässig. Kaum sitzen wir im Bus, ist auch schon Abfahrt. Mit viel Power verlässt der ehemalige Schulbus die Stadt und schraubt sich ganz langsam in die Höhe. Es ist ein sonniger schöner Tag. Die Luft wird frischer, sobald wir die Stadt verlassen. Kurz vor unserem Ziel müssen wir noch einmal umsteigen, wir werden im besten Sinne verladen, man sorgt für uns.

Estelí ist nicht schön, aber geschäftig und wir sehen keine Armut, wie in den anderen Orten vorher. Von hier aus wollen wir eine Wanderung in Miraflor machen, eine drei Klimazonen umfassende Landschaft im Nebelwald. An der Adresse der Agentur, mit der wir die Wanderung organisieren wollten, finden wir ein leeres Lokal. Die Website wirkt aktuell, doch auf Nachfrage erfahren wir, dass die Agentur „wegen der aktuellen Situation in unserem Land“ bis auf Weiteres geschlossen hat. Wir buchen schließlich im Café Luz, Non-Profit, mit Englisch sprechendem Guide, 4×4 Geländewagen und vegetarischem Mittagessen bei einer Familie, ein Paket für den kommenden Tag. Es gibt viel Papier, denn die Initiative bemüht sich alles Einkommen aus dem Tourismus gerecht auf die teilnehmenden Familien zu verteilen. Und seit Juni 2018 gibt es kaum noch was zu verteilen. (In Miraflor wird Kaffee angebaut, unten findet ihr einen Link zu einem Weltladen in Nürnberg, der unverpackten Kaffee aus Miraflor vertreibt. Vielleicht findet ihr ihn auch in Berlin. Oder im Versand kaufen und Familien helfen)

Unser Hostel gehört ebenfalls zum Café Luz, in dem – so der Lonely Planet – der nicaraguanische Küche müde Tourist, vegetarische und vegane Gerichte essen kann. Was hatten wir uns nach diesem Reisetag darauf gefreut. Zu früh, denn alle vegetarischen Optionen auf der Karte sind mit Klebeband säuberlich abgeklebt. Und auch das, was man darunter vermuten kann, klingt nicht gerade ermutigend. Wir beschließen im Supermarkt einzukaufen und unser Essen selbst zu gestalten. Der Supermarkt hat das beste Angebot, das wir bisher in Nicaragua gesehen haben, und kann mit einem Berliner Reichelt mithalten. Es gibt sogar frisch gebackene Brötchen.

Auf ein Bier dann noch mal über die Straße ins Café Luz. Und hier geht die Post ab: Fast nur Einheimische, spielen Gitarre, singen Liebes- und andere Lieder, erst schön, dann immer alkoholisierter. Vielleicht trifft sich hier so etwas wie die kleine alternative Szene der Stadt. Es sind nicht mehr als 20 Personen. Ich bin an Szenen in Köln erinnert. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, als wir gehen. Im Bett noch immer Musik in den Ohren, aus vorher feinen Stimmen ist ein Grölen geworden.

Natürlich gibt es das Frühstück am nächsten Morgen nicht pünktlich. Aber es klappt und wir gehen gestärkt auf Tour. Der Vermittler, Ariel, ist auch unser Fahrer. Aldo, ein studierter Biologe, dessen Spezialgebiet Biodiversität ist, wird unser Guide. Ein sehr gemütlich und langsam sprechender Mann. Im Auto besprechen beide noch unsere Route, als wir an Tabakplantagen vorbei, die Stadt verlassen. Nach einer halben Stunde lassen wir auch die asphaltierte Straße hinter uns und klettern über eine steile Schotterpiste in die Berge. Am Rande einer kleinen Siedlung werden wir abgesetzt und gehen mit Aldo zu Fuß weiter. Er kennt wirklich alle Pflanzen und ist begeistert von deren Eigenschaften, den Lebensgemeinschaften, die sie bilden und ihrer Adaption an bestimmte Lebensbedingungen. Es geht eine Weile bergauf, zwei Vegetationszonen sollen wir durchwandern, eine niedrigere trockenere und eine feuchtere, weiter oben. Anders als bei uns können hier in einem Baum bis zu 80 Arten wohnen. Auch Pflanzen, die nicht im Erdreich wurzeln, müssen dabei keine Schmarotzer sein. Die Luft bringt hinreichend Feuchtigkeit und auch Mineralstoffe mit. Eine Vielzahl sind Bromelien, bei uns Zierpflanzen, sie können jede Menge Regenwasser zwischen ihren Blättern sammeln. Auch „Großvaters Bart“ ist hier vertreten, grau (zum Schutz gegen Sonnenlicht und Austrocknung, erfahren wir), hängt er wie schwere Spinnweben von den Bäumen.

Als wir eine Weide betreten, mit alten Bäumen, ein leichter Hang, wird Aldo leise. Er sagt es vorsichtig: Hier gehe er gerne langsam durch, damit wir Zeit hätten uns mit der Situation, dem Ort zu verbinden. Dieser Platz ist der schönste auf unserer Wanderung. Er wirkt sehr alt und gleichzeitig, auf eine stille Art lebendig. Kein Effekt, kein WOW! Langsam, vielleicht eine halbe Stunde, gehen wir bergauf, bleiben stehen, jeder in seinem Tempo. Als wir oben sind, setzen wir uns eine Weile schweigend und blicken ins Tal. Wolken kommen ganz nah, in ganz feinen Tropfen umhüllen sie uns und sind wieder weg.

Diese Schönheit hat eine Kehrseite und die liegt zu unseren Füßen. Überall finden wir Plastikflaschen, Aluminium-Dosen, Folien und Verpackungen aller Art. Ich fange an zu sammeln, bald ist der kleine Tagesrucksack voll, jetzt kommt noch mein Dry-Bag dazu – keine Chance, 10 Minuten weiter ist auch der voll. Aldo meint, das Umweltbewusstsein fange erst in den letzten Jahren an, sich zu entwickeln. Er hasse das, es sei, wie jemanden auf den zu Tisch spucken.

Natur ist Aldos Ein und Alles. (Für Insider: Ich nenne ihn den Hans-Jürgen Tast der Pflanzenwelt). Aber wir haben auch andere Themen. Ich habe den Eindruck, dass arme Menschen in Nicaragua gebildeter sind als in Guatemala und frage danach. Er ist viel in Mittel- und Südamerika gereist und meinte, zunächst habe er auch gedacht, in Nicaragua, dem zweitärmsten Land der westlichen Hemisphäre, müsse es den Menchen schlecht gehen. Aber auf seinen Reisen habe er gemerkt, dass andere Staaten zwar weit mehr industrielle Entwicklung, mehr Reichtum hätten, dass er aber den Eindruck habe, dass es den Armen in Nicaragua trotz Armut deutlich besser gehe als den Armen in diesen Staaten. Wir erfahren, dass der von vielen gehasste Diktator Ortega erst vor wenigen Jahren die Schulpflicht für alle eingeführt und auch Strukturen geschaffen hat, damit sie auch in ländlichen Gebieten funktionieren kann: Sowohl Primarstufe als auch Highschool werden ganztags am Wochenende angeboten, sodass die Schüler unter der Woche weiterhin ihren Eltern helfen können.

Inzwischen sind wir in der dritten Klimazone, die ab 1400 m Höhe beginnt. Wir kommen an einem Kartoffelfeld vorbei, es wird ordentlich gespritzt und die Arbeiter tragen keinen Atemschutz. Mit Abstand betrachtet erinnert der Wald an unseren. Von Nahem sind da die 80 anderen Pflanzen, die einen Baum bewohnen. Zweimal müssen wir eine kleine Summe zahlen, weil wir privates Land überqueren. Die Wege sind nass und rutschig. Wir klettern über oder unter Zäunen durch. Aldo will einen kleinen Umweg gehen, auf einem privaten Grundstück hat er eine gelb blühende Pflanze in Erinnerung. Der Garten gehört einem Honduraner und beherbergt verschiedene eher seltene Pflanzen. Ein Strauch steht in Früchten, wir dürfen probieren. Aldo ist begeistert und pflückt ein paar Handvoll (auch für seine Mutter).

Wir treffen unseren Fahrer wieder und fahren ein paar Minuten zu unserem Lunch. Wir sind zu Gast bei einer Familie, die nicht, wie die meisten hier, Bauern sind, sondern einen kleinen Laden betreiben. Was Aldo auch nicht wusste: die 33-jährige Tochter ist vor drei Monaten an Dengue gestorben. Alle sind noch sehr traurig, es gibt einen kleinen Altar mit Bildern der Frau. Wir bekommen eine Vorsuppe, einen vegetarischen Teller, eine Nachspeise, Kaffee und Saft. Jedes eine Überraschung und das Leckerste, das wir bisher in Nicaragua gegessen haben. Während des Essens sprechen wir über Religion. Der Gott, an den er glaubt, sagt Aldo, ist ein offener, nicht moralischer Gott, der alles akzeptiert, was ist. Er spricht über Spiritualität und seine Intuition. Vieles davon kann man in seiner Begeisterung für die Natur fühlen.

Wir machen dann noch einen kleinen Abstecher zu einem Wasserfall. Auf dem Weg dahin müssen wir über eine kleine Brücke. Im Haus der Betreiber übt jemand E-Gitarre. Das ist schon alles, was man über diesen Wasserfall sagen kann. Und wie Kaffeekirschen schmecken, die an seinen Rändern wachsen.

Am frühen Nachmittag sind wir wieder in Estelí. Wir wollen uns in einem „teuren“ Café mit Kuchen und Cappuccino verwöhnen. Beides gelingt nicht. Aber das Abendlicht in der Stadt ist schön.

Mein Dry-Bag ist beim Flaschen- und Dosensammeln dreckig geworden, ich wasche ihn zweimal aus, bis er wieder sein leuchtendes Neongelb zeigt. Trotz der markanten Farbe werde ich ihn beim Packen vergessen. Der erste Verlust auf dieser Reise. Für 3 Monate dennoch eine gute Bilanz.

Am kommenden Morgen brechen wir früh auf. Wir wollen mit dem Express Richtung Granada fahren, das von allen gefürchtete Managua aber umgehen. Da es nur bergab geht, sind wir unglaublich schnell. In Tipitapa verlassen wir den Express, um dann mit zwei vollen Chicken Busses zunächst nach Masaya und von dort nach Granada zu fahren. An dieser Strecke reiht sich ein hochsicher eingezäuntes Areal an das nächste. Freihandelszonen: Firmen lassen hier von nicht gerade üppig bezahlten Nicaraguanern Waren produzieren, veredeln, verarbeiten, ohne das die Waren rechtlich in das Land ein- oder ausgeführt werden müssen. Spart Steuer, Zoll und Lohn. (Gibt es übrigens auch zwischen Nord- und Südkorea). Mehr darüber im Text der Städtepartnerschaft Kreuzberg – San Rafael del Sur (bei den Links).

Zur Mittagszeit sind wir schon in Granada. Zum ersten Mal ohne vorher reserviertem Hotel. Vor zehn Jahren war das gar kein Problem. Heute ist das anders … Davon später mehr.

Links

Estelí (Stadt) – Wikipedia

Miraflor Natural Reserve | Nicaragua | ViaNica.com

Cafe Luz | Luna International Hostel

Erneuerbare Energien für Miraflor

Miraflor Natural Reserve – Wikipedia

Der neue Unverpackt-Kaffee aus Nicaragua | Lorenzer Laden Nürnberg

Café Miraflor Bio Fairtrade – Kaffeewelt Eisbrenner

Der Bielefeld Kaffee

Freihandelszonen in Nicaragua | Städtepartnerschaft Kreuzberg – San Rafael del Sur (Nicaragua)

Tipitapa – Wikipedia