Zinacatán und Chamula sind Dörfer im Norden und Nordwesten von San Cristóbal, in denen sich das tradierte Maya-Leben noch weitgehend erhalten haben soll. Natürlich sind beide daher heute Touristen-Attraktionen. Wir haben die Tour dorthin bei Mauro in unserem Hostel gebucht. Um es vorweg zu sagen: Wir haben den schäbigsten Bus und unser Guide spricht – obwohl versprochen – kein Englisch. Und doch haben wir unheimliches Glück, denn er ist kein Touristenführer mit angelerntem Wissen, sondern gehört selbst der indigenen Bevölkerung an. Unsere Tour ist daher mehrere Male ziemlich emotional, wenn unser Guide, traurig wirkend, von den vergangenen Zeiten spricht. Zeiten, in denen ressourcenschonend nachhaltig und klimaneutral gebaut worden ist und die für die modernen „Tzotzil“ Vergangenheit sind.

Unser erster Stopp liegt außerhalb der beiden Dörfer. An einer Kreuzung stehen drei Kreuze auf einem Betonsockel, je mit einem (schon vertrockneten) Kiefernzweig geschmückt. Diese drei Kreuze, die formal Golgatha-Bilder ähneln und auch später in den Dörfern zu sehen sind, stehen für eine Verschmelzung der christlichen mit der Maya-Religion. Der Weltenbaum ist hier ebenso enthalten wie die vier Richtungen: Oben, Licht, Götterwelt, weiß (weißer Mais), rechts, Sonnenaufgang, rot, links, Sonnenuntergang, schwarz, unten, Unterwelt, Totenreich, gelb. Eine Öffnung vor dem Sockel, in die Erde, dient dem Opfern an die Götter der Unterwelt.

Nach dieser kurzen Einführung in Religion, Tradition und Ikonografie fahren wir nach Zinacatán. (Wenn ihr mehr über Religion und Tradition der Maya und die Verschmelzung mit der katholischen Religion nach der Okkupation durch die Spanier wissen wollt – unten habe ich ein paar Links, über Ergänzungen freuen wir uns)

Im Dorf selbst dürfen wir nicht mehr fotografieren. Wenn ich meinem Interesse an der Religion auf dieser Reise eine Überschrift geben soll, ist es ein Interesse am Umgang mit Bildern. Dazu muss ich nicht unbedingt selbst fotografieren. Für das Verbot hier mag es drei Gründe geben: Zum einen, ganz banal, den Respekt vor der Person, die gerade auf ganz persönliche, intime Weise eine religiöse Handlung vornimmt. Dieser Respekt ist für mich und Robert ganz natürlich, aus Indien wissen wir aber, dass ihn offensichtlich viele Touristen nicht besitzen. Zu diesem Respekt gehört es, das Gegenüber nicht als Objekt zu sehen, das ich ungefragt fotografieren darf, sondern als Subjekt, einen anderen ebenbürtigen Menschen, gerade dann, wenn sie oder er sich deutlich von mir zu unterscheiden scheint. Des weiteren gibt es hier in den Bergen Rebellen (eine Vermutung, dass man sich schützen möchte) und zum Dritten soll das „Nehmen“ einer Fotografie die geistigen/seelischen Kräfte des Fotografierten schwächen.

Wir werden mit einer Familie bekannt gemacht, die traditionelle Kleidung herstellt. Drei andere Reisegruppen sind schon hier. Das Weben hat als Handwerk Tradition. Zwei Frauen sitzen am Boden und fertigen ca. 40 cm breite Schals. Die Kett-Fäden spannen sie mit ihrem eigenen Körpergewicht. Ringsherum gibt es, wohl eher industriell gefertigte, Kleidung zu kaufen. Wir sehen eine Küche, das Zentrum des Hauses, hier werden von einer jungen Frau Tortillas auf einem heißen Eisenblech gebacken. Für uns, mit Bohnen und etwas Gewürzen: auf jeden Fall vegetarisch. Das spanische Ehepaar, das noch zu unserer Reisegruppe gehört, lehnt ab. Hier überall dürften wir fotografieren. Die Familie, der angeblich der Vater und Ehemann abhanden gekommen ist, verdient ihr Geld mit Touristen. Wir mögen nicht. Fühlen uns ein wenig wie in einem Zoo. Es gibt noch einen weiteren Raum, dunkler, in den die anderen Reisegruppen gehen. Hier wird, anhand eines kleinen Altars, und einiger Gegenstände in die Kulte der Tzotzil eingeführt. Unser Guide macht das nicht, obwohl wir unendlich viel Zeit dafür gehabt hätten. Und vielleicht ist das ja auch ganz in Ordnung so.

Dann geht es weiter nach Chamula. Das Dorf mit der bei Touristen berühmten Kirche, in deren Kult Maya und Christentum tief ineinander verschmolzen sind (Synkretismus). Am Ortseingang zunächst ein Friedhof, die Kreuze haben unterschiedliche Farben für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sind gleichschenklig und stecken ohne Sockel einfach in der Erde. Totenkreuze werden von den Kreuzen auf den Kultstätten streng unterschieden. In einer TV-Dokumentation hatten wir in Berlin bereits gesehen, wie ein Maya-Priester sich darüber aufregte, dass eine Kultstätte (mit den drei Kreuzen) mit Totenkreuzen „verunreinigt“ worden seien. Die Kirche am Friedhof steht seit einem Brand als Ruine leer. Ein eigener, sehr berührender Anblick.

Die Kirche dürfen wir von außen fotografieren. Ein banaler Anblick. Dann bezahlen wir Eintritt und gehen hinein. Im Flüsterton erläutert unser Führer des Leben im Inneren, dann haben wir 20 Minuten Zeit.

Für die Maya besteht das Universum aus drei Bereichen, hören wir, den neun Stufen der Unterwelt, dem Boden, auf dem die Menschen leben und den dreizehn Bereichen des Himmels. Die Nadeln auf dem Boden repräsentieren die Erde, den Boden auf dem wir leben. Die Sphäre des Himmels und der Unterwelt, dem Reich der Toten, werden vom Weltenbaum mit Krone und Wurzeln auseinander gedrückt – entfaltet. Die dreizehn Himmel bilden einen Bogen, der den Verlauf der Sonne von Ost nach West beschreibt. Die gedachte Bewegung setzt sich in der nicht sichtbaren Unterwelt fort. Die Mayas besitzen eine zyklische Vorstellung von Leben: Dem Aufgang folgt über den Zenit der Untergang, der zweite nicht sichtbare Teil des Kreises geht durch die Unterwelt, um dann wieder von Neuem zu beginnen. Dieses Sonnenkonzept, das (imho.) auch die Ägypter hatten, entspricht dem Leben des Menschen: Nach der „unsichtbaren“ Reise durch die Unterwelt folgt eine neue Geburt. Daher ist der Tod so wichtig, Tote sind Reisende, sie werden mit Proviant beerdigt und man hält Kontakt zu ihnen, durch Gebete und Opferungen. Auch die vertikale des Kreuzes soll diesen Kontakt zwischen den Sphären darstellen. Da jeder Mensch direkten Kontakt zu den Göttern und Toten haben kann, wird in dieser Gemeinde auch das Priestertum abgelehnt. Es braucht keinen Vermittler. Das einzige Sakrament, das hier respektiert wird, ist die Taufe. Und, so sagt unser Guide, es ist auch das einzige Mal, dass Priester der katholischen Kirche hier geduldet werden.

Drei schlechte Dinge gäbe es für die Tzotzil in dieser Kirche, eine dunkle Figur rechts (die wir nachher nicht finden werden), das christliche Kreuz, das groß und schmal, wie abgestellt ebenfalls an der südlichen Wand steht und als Zeichen der Eroberer gilt und das Taufbecken. Dennoch wird hier (einmal im Jahr) getauft. Wir erfahren auch, dass der Grund, aus dem die Tzotzil nur die Wolle der Schafe scheren, sie aber nicht töten oder essen, im Johannis-Kult gründet: Der Täufer soll immer ein Schaf an seiner Seite gehabt haben.

Im Folgenden nehme ich euch mit den Worten, die ich gleich nach dem Besuch aufgeschrieben habe, auf eine kleine Erkundung mit. Nur Sprache, keine fotografischen Bilder. Inzwischen habe ich gesehen, dass es im Netz längst Bilder und sogar einen kurzen Film aus dieser Kirche gibt. Aber keines davon kann das transportieren, was wir hier erlebt haben. (Daher habe ich auch nichts verlinkt.) Nehmt eure Fantasie, ich glaube ihr kommt so näher heran. (Und wer es unbedingt auch vor den äußeren Augen sehen will: Google weiß wirklich alles!)

Chamula Kirche

Von außen eine gewöhnliche Kirche, ein Schiff mit Altarraum, das innen deutlich breiter wirkt als vermutet. Vielleicht liegt es an den Tüchern, die vom First zu den Rändern des Daches gespannt, weiß-blau-gelbe Bögen bilden. An der von uns aus rechten Seite, wir stehen mit dem Rücken zum Eingang, gibt es zwei verglaste, hohe Fenster. Sie gehen nach Süden, das mittägliche Licht scheint von oben und fängt sich gleich in der Copal-geschwängerten Luft. An der linken Wand (Norden) stehen Kästen mit Figuren Heiliger, fast alle mit europäischer Physiognomie. Manche lebensechter, manche wie Karikaturen von Schaufensterpuppen. Die verglasten Kästen sind von innen nicht beleuchtet, so dass die darin befindlichen Figuren düster wirken, haben unterschiedliche Größen und meist einen goldenen Rand. Davor unglaubliche Mengen von Blumengebinden, die fast ausschließlich aus weißen Blüten bestehen und schon etwas welk werden. Wiederum davor, zur Mitte des Kirchenschiffes hin, auf Tischen oder auch direkt auf dem Boden hunderte, wenn nicht tausende flackernde Kerzen. Den Altarraum vor uns beherrscht eine große Figur von Johannes dem Täufer. Er ist hier zentral, wichtiger und größer als Jesus (links in einem Glassarg) und Maria (rechts, in der Gestalt der Lieben Frau von Guadaloupe). Der Legende nach soll Johannes das Hochtal, in dem Chamula liegt, trocken gelegt und so das Leben hier erst möglich gemacht haben. Die Decke der Apsis zeigt die drei, den Evangelisten zugeschriebenen Tiere: den Adler, den Löwen, einen Stier – einen Mensch (für Matthäus) kann ich auf dem vierten Bild nicht erkennen. Ich sehe einen Jaguar. Im Osten eine Abbildung des Lichts, im Westen eine Figur, die ich als Christus lese.

Das Licht in der Kirche geht von den beiden Fenstern und den vielen Kerzen aus. Jede zweite Kerze brennt in einem Glas, das mit einer Abbildung der „Guadaloupe“ bedruckt ist.

In dieser Kirche gibt es keine Bänke, keine Orgel und keinen Altar. Der Boden ist mit Piniennadeln bedeckt, auf dem unterschiedliche große Gruppen knieen, sitzen oder stehen. Zur Zeit schätze ich, sind etwa 70-100 Menschen in der Kirche. Damit ist sie gut halb gefüllt. Alle Gruppen haben Kerzen vor sich aufgestellt, manche singen, manche beten flüsternd. Vor der Figur der „Lieben Frau“ steht eine etwas größere Gruppe. Einige Personen tragen dicke Überwürfe aus Schafwolle in Weiß oder Schwarz. Das ist die Kleidung der Würdenträger der Tzotzil, indigener Nachfahren der Maya, die in dieser Gegend leben. Ein Junge spielt auf einem Akkordeon eine sich mantra-artig wiederholende Melodie. Ein Älterer schlägt dazu auf einer großen Trommel. Es wird Posch getrunken, ein aus Zuckerrohr gewonnener Wein, aber auch Cola-Flaschen werden herumgereicht. Beides soll, so lese ich später, den Schamanen das Rülpsen erleichtern, mit dem sie böse Geister aus dem Körper von Kranken lösen und auf ein Huhn übertragen können. (Diese Hühner werden dann getötet und deren Blut geopfert – wir haben das aber nicht erlebt). Zwischen den Gesängen wird auch viel gelacht und gescherzt. Alle wirken recht entspannt, trotz der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihren Kult betreiben. Nach einer Weile scheint diese Gruppe fertig zu sein und zieht – die Musik voran – aus der Kirche aus. Draußen tut es noch ein paar heftige Schläge, Böller, die „Bombas“, die hier wohl jedes Fest begleiten. Es ist jetzt leerer, und wir erkennen Männer, die mit einem Spachtel und einer Tüte den Boden von Kerzenwachs und ebenfalls mitgebrachten Blättern säubern.

Die Luft, die wir atmen ist süß und schwer. Zum einen kommt das von den Piniennadeln auf dem Boden, zum anderen vom Weihrauch und Kopal, der hier verbrannt wird. Wir setzen uns eine Weile, spüren und lauschen mit allen Sinnen ohne etwas bestimmtes „verstehen“ zu wollen. Kleinere Gruppen und Einzelne beten jetzt an verschiedenen Stellen der Kirche. Ein Mann vor dem Glassarg mit der Figur, die den toten Christus repräsentiert, bewegt sich dazu rhythmisch. (Ich habe ähnliches bereits bei orthodoxen Juden gesehen). Viele bekreuzigen sich immer wieder. Zwei Frauen, direkt vor uns singen dieselbe, sich immer wiederholende Weise, die wir schon bei den beiden Schamanen in San Cristóbal vernommen haben. Die Augen brennen etwas vom Copal. Wir sind beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, die scheinbar leicht sich immer wieder in gelassene Heiterkeit verwandelt und zurück.

Nach einer Weile stehen wir auf und verlassen die Kirche. Unser Führer wartet schon. Am Auto die letzten Worte, Dank. Frage, ob wir Kaffee einer Zapatisten Kooperative kaufen wollen. Dann bringt uns der Wagen zurück, zunächst durch das geschäftige, große San Cristóbal hinein in unsere kleine Touristenblase.

Links

Chamula – Wikipedia

Synkretismus (Religionswissenschaft) – Wikipedia

Die Kultur der Maya – Teil I (Kultur, Gesellschaft)

Die Kultur der Maya – Teil II (Architektur, Schrift, Mathematik)

Die Kultur der Maya – Teil III (Religion)