3. – 6. März 2020

Montagabend bringt uns ein Taxi zum Secret Garden Hostel in Quito, von dem der Nachtbus nach Lago Agrio abfährt. Die Tour in das Amazonasgebiet Ecuadors hatten wir ein paar Tage vorher gebucht. Vier Tage und drei Nächte werden wir in der Siona-Lodge an der Laguna Grande im Cuyabeno-Schutzgebiet verbringen, das zu den artenreichsten Amazoniens gehört. Das Gebiet hat eine wechselvolle und nicht ganz einfache Geschichte: Zunächst haben hier nur zwei indigene Ethnien gelebt. Nach der Zerstörung weiter Teile durch (Erdöl-)Industrie, wurden nach konfliktreichen Verhandlungen sechs weitere indigene Stämme hier angesiedelt. Sie sollen die Möglichkeit haben, soweit möglich, ihrer tradierten Lebensweise nachzugehen. Seit Mitte der 1980er Jahre etabliert sich ein Öko-Tourismus, der den Communities ein Einkommen jenseits der Ausbeutung der eigenen Ressourcen ermöglichen soll. Hier gibt es interessante Pro- und Contra- Argumentationen. Wenn euch das interessiert, schaut euch gerne den unten verlinkten Wikipedia-Artikel an.

Wie (fast) immer falle ich in komatösen Schlaf, sobald sich ein Nachtbus auf den Weg macht und stolpere entsprechend schlaftrunken, als wir am frühen Morgen an einem einfachen Gasthaus heraus gebeten werden. Es gäbe Hängematten unter dem Dach, zum Weiterschlafen. Ich bin jetzt wach, aber Robert genießt die Horizontale noch bis zum Frühstück. Es ist überraschend kalt. Ich hatte mit über zwanzig Grad gerechnet, aber dieser Morgen ist frisch. Mit dem Licht erwachen die Vögel, die Insekten hatte ich auch in der Dunkelheit schon gehört. So beginnt also unser Abenteuer Regenwald. Erst gegen acht rührt sich wieder etwas im Restaurant: Vater und Sohn bereiten ein Frühstücksbuffet für die, die hier auf den Weitertransport warten. Wir sind nur fünf. Ein amerikanisches Paar mit erwachsener Tochter, Robert und ich. Kurz vor zehn holt uns ein Kleinbus ab, zunächst geht es zum Flughafen von Lago Agrio, einer Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern mitten im Dschungel, die durch die Ölindustrie entstanden ist. Vier weitere Gäste werden erwartet. Es sind Beate mit Andreas, Renate und Karin. Greys aus Halle, die sich schon lange kennen, viele gemeinsame Reisen unternehmen, mit denen wir die nächsten Tage gemeinsam verbringen werden. Sie haben schon einen großen Teil Südamerikas bereist und legen uns noch einmal Bolivien ans Herz.

Es ist schön zu sehen, wie mutig und lebendig man auch mit über 70 noch in der Welt unterwegs sein kann. Jeweils zwei Stunden Kleinbus und Boot liegen noch vor uns. Etwa nach der ersten Stunde hat mein Telefon kein Netz, unser Guide, der schon seit Lago Agrio bei uns ist, erspäht einen Kaiman und als wir nach einer kurzen Registrierung ins Boot steigen, umgibt uns schon der wilde Wald. Willkommen im Amazonasregenwald .

Auf den ersten Kilometern des Cuyabeno Flusses umgibt uns ein intensiver süßlicher Geruch, von welchen Pflanzen immer kommend. Alles Primärwald und doch ändert sich das, was wir sehen langsam und beständig. Unterwegs sind wir schon am „Tiere spotten“. Unser Guide findet Affen, Vögel und sogar eine noch recht kleine Anakonda, die ein Sonnenbad nimmt. Dass die Tiere hier in freier Wildbahn meist recht weit entfernt, hoch oben in den Bäumen und im Gegenlicht zu sehen sind, wird auch in den kommenden Tagen so bleiben. Unser Gefühl trübt das nicht, das Ganze ist einfach fantastisch: Primärwald, seit hunderten von Jahren unverändert (dieser Bereich ist sogar während der Eiszeit tropischer Regenwald geblieben).

Gegen 16 Uhr kommen wir an der Siona-Lodge an. Wir werden von einem Kaiman begrüßt, der gleich neben dem Bootssteg liegt. Die Lodge hat Platz für 20 Gäste. Sie ist nicht ganz ausgebucht, aber alle Anwesenden sind aus Deutschland. Eine auf Reisen, so fern der Heimat, überraschende Erfahrung. Unser Zimmer ist eine „Doppelhaushälfte“, zwei Betten, ein Regal, ein eigenes Bad und eine kleine Terrasse mit Hängematte. Strom (zum Aufladen der Akkus) und Licht gibt es von 18-22 Uhr. Er wird am Tage über Solarpanel erzeugt. Alles ist geplant und organisiert: Unser Programm und auch die Essenszeiten. Wie es scheint, seit Jahren erprobt: Ein Uhrwerk im Dschungel. Wir lassen uns gerne drauf ein, alleine darf man hier ohnehin nicht herumstromern, sowohl Wasser als auch Wald sind gefährlich. Nur Mücken, von denen wir hier tausende erwartet hatten, gibt es kaum.

Nachts im Dschungel

Noch vor dem „Dinner“ unternehmen wir unsere erste „Nachtwanderung“. Wir sind nur 300 Meter vom Äquator entfernt, das ganze Jahr hindurch beginnen Tag und Nacht zur selben Zeit, um 6 respektive um 18 Uhr. Wir dürfen uns Gummistiefel aussuchen, und nach ein paar Anproben ist ein passendes Paar gefunden. Neisser, so heißt unser Guide, zeigt uns Spinnen (auch Taranteln), kleine und große Frösche und erzählt von deren Lebensgewohnheiten. Wir sind schon einige Zeit unterwegs, als Neisser uns bittet die Taschenlampen auszumachen und für einige Zeit still der „Sinfonie des Dschungels“ zu lauschen. Was mich vorher schon sehr berührt hat, wird jetzt noch schöner. Nichts ist hier durch Menschen gestaltet und doch scheinen die Klänge sich aufeinander zu beziehen. Die lautesten und gleichzeitig auch melodischsten Stimmen gehören Fröschen. Zunächst bin ich erstaunt, erinnere mich dann aber an den Gesang von Unken, den ich einmal in Norddeutschland habe hören können. (Unken gehörten früher in unsere Feuchtgebiete, sind heute aber nur noch selten zu finden). Das Essen ist Klasse für eine Küche, die vier Stunden vom nächsten Supermarkt entfernt ist und man bemüht sich uns immer eine ansprechende vegetarische Option zu bieten. (Neisser isst kein rotes Fleisch, weil durch die Abholzung für Soja und Palmöl, das dann als Tierfutter Verwendung findet, viel Urwald zerstört wird – und der liegt ihm wirklich am Herzen). Nach dem Abendessen spricht Neisser noch einmal alle Tiere, die wir heute gesehen haben, anhand von Fototafeln mit uns durch. Obwohl das unsere Erinnerung vertiefen soll, versage ich letzten Endes dabei, mir mehr als einen oder zwei Namen zu merken. Es ist, wie gesagt, eine der artenreichsten Gegenden der Erde.

Die erste Nacht: Es wird hier richtig dunkel. Keinerlei Zivilisationsgeräusche. Nur Hören, diese wunderbare Sinfonie noch einmal ganz aufnehmen, so schlafen wir ein und schlafen tief und fest durch, bis zum kommenden Morgen.

Besuch bei den Siona

Am zweiten Tag steht der Besuch einer indigenen Community auf dem Programm. Zwei Stunden sind wir dafür noch einmal mit dem Motorkanu auf dem Fluss unterwegs. Bei allen Fahrten hält Neisser nach Tieren, meist sind es Vögel oder Affen, Ausschau. Wenn er eines entdeckt, wird das Boot in eine günstige Position gebracht: Aras, rote und blaue, andere Papageien, Sittiche, Bussarde, Fasane, Schildkröten, sogar den Amazonas-Flussdelphin sehen wir, wenn auch nicht viel davon.

Der Besuch in der Gemeinschaft ist viel angenehmer als erwartet. Die Siona sind eine der beiden indigenen Gruppen, die schon immer in diesem Gebiet gelebt haben. Wikipedia spricht von nur etwa 3-400 Angehörigen dieses Volkes. Gleich neben dem Anleger steht ein Haus und eine kleine Außenküche. Hier begrüßen wir eine Frau und einen Mann, deren Namen ich leider schon wieder vergessen habe. Dabei waren sie wichtig: wir fühlen uns zu Gast bei einem Paar und nicht wie in einer Schauveranstaltung. Wir nehmen Teil an der Maniok-Ernte, dem Reiben und Trocknen des Mehles und dem Backen der Brot-Fladen, die wir am Ende auch zum mitgebrachten Lunch essen. Alles innerhalb weniger Stunden. Das Dorf hat einen Fußballplatz, sogar mit Tribüne, ein Solarpanel und einen Wasserfilter von ClearWater. Es ist erstaunlich, wie das Paar es fertig bringt, dass wir uns persönlich willkommen fühlen, obwohl sie Besuch wie uns sicher mehrfach in der Woche bekommen. Ein unvergessliches Highlight bleibt die Begegnung mit einem sehr jungen Wollaffen, der sich zunächst Robert und später mich als Bezugsperson ausgesucht hatte. Ob die Wahl unserer dunklen Kleidung oder einer bestimmten Ausstrahlung folgte, bleibt offen, jedenfalls ist der Junge mehr als anhänglich und wird erst ruhig, als er auf den Schultern sitzend sich in unseren Haaren festhalten kann. (Die Entspannung geht soweit, dass es mir irgendwann warm den Rücken herunter läuft und ich mein T-Shirt auswaschen muss). Neisser erzählt auf Englisch – ich nehme an, dass unsere Gastgeber das nicht verstehen – dass der Wollaffe auf dem Speiseplan der Siona steht und es schon vorkommt dass die Mütter getötet und die Babys als Haustiere behalten werden. Und wenn man ihrer dann überdrüssig ist, kommen sie auch in den Topf. Etwaige Schlüsse überlässt er uns, dem jungen Affen aber rät er: Es ist besser für dich, du verschwindest in den Wald. Nur ein Beispiel, das zeigt, wie diffizil die Balance zwischen Natur- und Kulturschutz ist.

Nach dem gemeinsamen Essen verabschieden wir uns herzlich und fahren noch ein paar Meter weiter den Fluss herunter. Wir besuchen Rafael, einen Schamanen. Er erzählt von der Ausbildung zum Schamanen, die Bedeutung von Ayahuasca (hier Yagé genannt) für die Verbindung mit Allem, der Grundvoraussetzung für das Heilen können. Mit 15 Jahren beginnt die Ausbildung, 12 Jahre dauert sie und nicht alle, die sie beginnen, werden tatsächlich Schamane: nur einen oder zwei wählt der ausbildende Schamane aus. Rafael ist sehr freundlich und authentisch, dennoch lenkt Neisser das Gespräch übersetzt mehr oder auch weniger genau und der gesamte Inhalt scheint verabredet. Am Ende gibt es ein Reinigungsritual, Giftpfeilblasen mit einem verabredeten Scherz und ein Foto. Nicht Rafael ist es, den ich als unecht erlebe, aber die Inszenierung der Inhalte für uns Touristen. Dabei hätte es so viele spannende Fragen gegeben. Im Nachbarpavillon wartet schon die nächste Gruppe, ich denke an die Sprechzimmer beim Orthopäden: Der nächste bitte … Tschüss Rafael…

Tiere beobachtend fahren wir knapp zwei Stunden wieder zurück zur Lodge. Wie jeden Abend geht es nach einer kleinen Pause noch einmal mit dem Boot auf die Lagune, zum Sonnenuntergang und zum Baden. Auch von den anderen Lodges am Fluss kommen die Boote, von denen mitunter ganz andere Stimmungen herüber schwappen. Mitten auf dem See gibt es keine Kaimane, das Wasser erfrischt angenehm und am zweiten Abend gibt es für mich und die anderen weniger Beweglichen aus unserer Gruppe auch eine Leiter.

Wanderung im Regenwald

Der dritte Tag verspricht eine 3-5 stündige Wanderung. Wir werden mit dem Boot abgeholt und nur wenige hundert Meter über die Lagune gebracht. Hier stehen die Reste einer verlassenen Lodge und ein Schild, das einen „Sedero Catolica“ ankündigt, einen Weg, der von einer Forschungsgruppe der katholischen Universität in Quito vor Jahren angelegt wurde. Der erste Baum schon ist von einer Reihe von Orchideen besiedelt. Wir erfahren, dass es davon etwa 130 Arten alleine in Ecuador gibt und dass die Blüten von vielen dieser Spezies so klein sind, dass man sie unter der Lupe ansehen muss. Ein paar Meter weiter erklärt Neisser an einer offenen Stelle im Boden, warum es so unumkehrbar ist, wenn Regenwald abgeholzt wird: die Humussschicht auf dem Lehmboden hier ist sehr dünn. Nur das dichte Blätterdach, das vor Erosion schützt und mit den auf den Boden fallenden alten Pflanzenteilen den fruchtbaren Boden mit Nachschub versorgt, garantiert den Bestand des Waldes. Die Bäume wurzeln flach, schon wenige Dezimeter tiefer finden sie keine Nahrung mehr. Einmal abgeholzt, verschwindet die Humusschicht recht schnell und taugt für nicht viel mehr als eine einfache Wiese. Eine solche Versteppung konnten wir auf Borneo sehen.

Dann geht es in den Wald. Ein schmaler Pfad, manchmal auf der „Jagd“ nach der guten Perspektive für ein Vogel- oder Affenfoto auch querfeldein. Neisser ist bemüht allen zu guten Fotos möglichst vieler Tiere zu verhelfen. Ich bin mit meinem 3-fach Zoom dafür nicht ausgerüstet und das „Jagdfieber“ auf Bilder bezogen ist ohnehin nicht so meins. Ich genieße das Hiersein in diesem unglaublich dichten Wald, in dem jeder Quadratzentimeter zu leben scheint. Und die Musik, die Geräusche, die mich dieses Mal mehr berühren als das Gesehene. Apropos Regen: „Ich höre einen großen Regen kommen“, sagt Neisser, was für Augen, was für ein Ohr. Aber nur 5 Minuten später können wir es alle hören – ein gewaltiges Prasseln in der Ferne. Vielleicht zehn trockene Minuten bleiben uns von da an noch. Danach beginnt es zu schütten. Genau so, wie man es sich immer vorstellt, wenn man an tropischen Regenwald denkt. An „Tiere beobachten“ ist jetzt nicht mehr zu denken. Neisser läuft schneller, mal auf dem Pfad, mal querfeldein. Es ist gar nicht so leicht seine Spur nicht zu verlieren. Trotz Regenjacke oder Poncho völlig durchnässt, die Gummistiefel bis oben hin vollgelaufen, kommen wir nach einer weiteren knappen Stunde am Resort an. Happy, denn wir hatten erwartet, dass wir auch zurück einen kurzen Weg mit dem Boot fahren müssten. Was jetzt nass war, wird hier auch nicht mehr trocken. Bei 85-95% Luftfeuchtigkeit ist daran nicht zu denken. Aber wir sind glücklich, der Regen konnte nicht passender kommen, Regenwald nicht besser erfahren werden als so. Nach dem Duschen dann ein heißer Café – herrlich.

Zum Abschluss des Tages geht es noch einmal auf das Wasser. Dieses Mal in einem Ruderboot. Wir fahren andere, schmalere Wasserwege in die Dämmerung. Und es ist still, weil kein Motor dröhnt, werden auch wir ganz still.

Abschied vom Amazonas

Programm ist Programm. Heute bedeutet das um sechs Uhr aufstehen, ins Boot steigen und in der Morgendämmerung Vögel beobachten. Mit Ausnahme von „Stinktruthähnen“ (Hoatzin) sehen wir die Tiere allerdings meist als dunkle Punkte in weiter Ferne. Dafür ist das ein sehr interessanter Vogel, von dem die Biologie noch nicht recht weiß, wie er einzuordnen ist: Er frisst giftige, nährstoffarme Pflanzen und verdaut diese in einem dem Magen vorgelagerten Darmstück, Wiederkäuern nicht unähnlich. Außerdem haben die Jungtiere Krallen an den Flügeln mit denen sie wieder auf den Baum klettern können, auf dem die Eltern sie versorgen. Fliegen ist nämlich nicht wirklich ihre Stärke… Nach dem Frühstück heißt es dann packen, worauf ich mich wirklich freue, sind trockene Sachen und ein Bett, das nicht feucht riecht. Aber ich werde den Gesang vermissen, die Gerüche, die wir auf der zweistündigen Bootsfahrt zur nächsten Straße noch einmal intensiv wahrnehmen. Ein Highlight gibt es auf dieser Fahrt aber noch: Aus nächster Nähe können wir einer Anakonda beim Verdauen zusehen, sie hat sich, weil das mit Wärme besser klappt, auf einen Strauch in die Sonne gelegt. Und Robert hat ein Faultier gesehen, einen dunklen Fleck im Baum also, der sich – Faultiere schlafen zwanzig Stunden am Tag – nicht bewegt.

Mit Wehmut betreten wir den Bootssteg und werden gleich mit der Realität der zivilisierten Welt konfrontiert. Ein Gesundheitsteam nimmt all unsere Daten auf, misst Fieber und den Sauerstoffgehalt im Blut, bevor wir weiter dürfen. Für Robert ist es ganz sicher: in den Dschungel will er auf jeden Fall noch einmal.

Links:

Amazon Shepherd – die Website unseres Guides Neisser

Wildtier-Reservat Cuyabeno – Wikipedia

Cuyabeno Wildlife Reserve – Wikipedia

Cuyabeno Naturreservat | Galapagos & Ecuador Reisen & Informationsportal

Hoatzin – Wikipedia

Siona Amazon Lodge – Ecuador amazon lodge – Cuyabeno Wildlife Reserve

Ecuador – Cuyabeno-Naturreservat

Indigene: Ecuador

Iowaska Information | Ayahuasca Foundation

Kulturfest der Siona und Secoya im Naturreservat Cuyabeno/Ecuador – Sommer Fernreisen – Blog

Indigene Völker — LOVE FOR LIFE

ClearWater

Unken – Wikipedia