11. bis 15. und 23. bis 25. November

Wir fliegen über San Salvador nach Managua. Der Flughafen von San Salvador ist unerwartet groß und top modern. Ein Stück vertraute Zivilisation, die mich aufatmen und Robert frieren lässt. Die Einreise in Managua dauert etwas, es gibt Fragen zur Gesundheit, einen individuellen Gesichtsscan, dann haben wir es geschafft. Weil wir spät abends ankommen und keine Nacht in Managua verbringen wollen, haben wir eine Abholung durch das Bigfoothostel in León verabredet. Eine private Taxifahrt sozusagen. Unser Fahrer ist schon etwas müde, über eine Stunde hat er am Flughafen auf uns warten müssen. Zwei Stunden soll die Fahrt dauern. Wir fahren durch dunkle, recht unbelebte Straßen und lassen rechter Hand im Dunkel den aktiven Vulkan Motombo und den Nicaraguasee liegen. Ich schlafe bald ein, Robert überwacht das Wachbleiben unseres Fahrers. Als wir ankommen, ein ganz anderes Stadtbild, laute Musik, kreischende Mädels, zum Glück nicht in unserem Hostel, sondern im Via Via gegenüber. Bigfoot ist eine Marke für junge partyhungrige Menschen mit weniger Geld. Es gibt überwiegend Schlafsäle. Wir haben einen „Private Room“, wie das ganze Hostel in Schwarz-Orange, kein Fenster, nur ein kleiner Ventilator, der ordentlich Krach macht. Mit Ohrstöpseln können wir dennoch gut schlafen.

Nicaragua. Was tun die freundlichen Begegnungen mit den Menschen nach 10 Tagen Belize Ballermann gut. Wir fühlen uns sofort wohl. Wir wechseln das Hostel und landen im Lazybones, einer entspannteren Unterkunft mit schönen Plätzen in Hängematten, auf Schaukelstühlen oder am Pool. Schaukelstühle sind überall in Nicaragua gegenwärtig, die Älteren sitzen darin vor dem Haus, in manchem Raum, den wir von der Straße aus sehen können, stehen einige davon im Kreis um einen kleinen Tisch. Ideal, so scheint uns, für einen ausgiebigen Plausch unter Nachbarn oder Freunden. Das Personal ist sehr angenehm. Göttlich ist auch unser erstes Frühstück in der French Bakery. Nach 10 Tagen amerikanischem Toastbrot ist ein Croissant wie klares Wasser nach 3 Tagen durchwanderter Wüste. León wird der einzige Ort in Nicaragua werden, dem wir die Tourismuskrise nach den Unruhen im letzten Jahr kaum anmerken. Es gibt hier viel Leben jenseits des Tourismus. Leon hat verschiedene staatliche und auch private Hochschulen, hier lebt die linke, globale und intellektuelle Elite.

Ich brauche dringend eine Frisur. Ein paar Meter vom Hostel entfernt gibt es einen hip aussehenden Laden. Interessant die Arbeitsteilung: Ein Friseur schneidet im Akkord Haare, während die andere Person (der Inhaber?) lediglich kassiert, ansonsten völlig unbeteiligt, weder mit seinen Kunden noch mit dem Mitarbeiter in Kontakt. Obwohl die Couch für die Wartenden immer voller wird, ändert sich nichts. Einer, der arbeitet und einer, der kassiert. Der Friseur wird in diesem Laden eher zu einem Produktionsmittel als zu einem Subjekt. Ungewohnt. (Gell, Bella?)

Klar, in Nicaragua wollen wir Vulkane sehen. Wir entscheiden uns für „Sandboarding“ am „Cerro Negro“, einem der sieben (von 28) aktiven Vulkane in diesem Land. Maribos-Tours ist ein Veranstalter in nicaraguanischer Hand. Gegen sieben Uhr am Morgen werden wir abgeholt, mit zehn Personen wird unser Truck ziemlich voll. Eine gute Stunde dauert die Fahrt bis zum Nationalpark, wo wir anhand eines 3D-Modells einen Überblick über die Vulkane der Region bekommen. Unterwegs springt ein junger Mann auf und fährt die letzten 15 Minuten auf der hinteren Stoßstange mit. Es geht steil bergauf, es gibt auch keine richtige Straße mehr und der Wagen springt oft sehr. Für den jungen Mann offenbar kein Problem. Oben erfahren wir, dass er sich anbietet, für fünf Dollar die Ausrüstung derjenigen zu tragen, denen das beim Wandern zu schwer wird. Cerro Negro ist der zweitjüngste Vulkan der Erde und ist regelmäßig aktiv. Die Ausbrüche kündigen sich aufgrund der Beschaffenheit durch Beben ein bis drei Tage vorher an, sodass genügend Vorwarnzeit besteht. Wir bekommen kleine, an Kinderjeans erinnernde Rucksäcke und ein mit Metall überzogenes Holzbrett, das später unser „Sandboard“ sein soll.

Dann beginnt die Wanderung über schwarze Lavafelder, immer weiter bergauf, bis wir einen Kraterrand erreichen. Die verschiedenen Farben, die wir hier sehen, kommen (rotbraun) vom Eisen, das, in der Lava vorhanden, nach und nach korrodiert und (weiß) dem Schwefel, die mit den Gasen aus dem Erdinnern kommen??? Es weht ein schöner Wind, der uns kühlt und die Sonne besser ertragen lässt. Der Aufstieg in diese ungewohnte Welt ist beeindruckend und wir haben eine wunderbare Sicht.

Zum Ende unserer Tour kommt das Sandboarden. In unseren Rucksäcken finden wir Schutzkleidung, aus Jeansstoff genähte Overalls, die man an den Beinen zuschnüren kann, Handschuhe, einen Mundschutz und eine Brille. Wir erhalten eine Einweisung, wie wir auf unserem Brett nach unten schlittern sollen. Wer als Kind Berge und Schnee hatte, hat es deutlich leichter, es ist wie Schlitten fahren. Es gibt zwei Pisten, die abwechselnd und nacheinander befahren werden. Unser Guide steht auf halber Strecke, fotografiert und filmt. Noch ahnen wir nicht, dass wir am Ende des Tages je 8 Fotos und ein professionell geschnittenes Video bekommen werden. Und zwar alle von allen. So bleibt unsere Gruppe, Franzosen, Deutsche und Niederländer im WeTransfer.zip auf immer vereint.

Auf der Rückfahrt machen wir noch am Berg halt, entlassen den Träger und erfahren, dass er mit seinen Arbeiten eine Familie mit Frau und zwei kleinen Mädchen ernährt. Die Metallflächen der Schlitten – die Abfahrt dauerte keine drei Minuten – müssen nach jeder Fahrt auf der Lava-Piste überarbeitet werden, die Overalls gereinigt, die Rucksäcke neu gepackt. Wir sind beseelt, weniger wegen der Abfahrt als wegen der schönen Zeit in dieser Landschaft, während des Aufstiegs auf den Vulkan.

Am frühen Abend gehen wir noch einmal auf den Hauptplatz. Das Licht ist schön für ein Blog-Foto von der Kathedrale. Als ich Robert wiedersehe, steht er neben einem kleinen älteren Mann in verblichenem grünen Hemd und beiger Hose. Beide sprechen Deutsch miteinander. Maurice hat etwa mein Alter, studiert und früher Touristen Spanisch beigebracht. Er erzählt von den Zeiten, als die DDR noch geholfen hat, den Zeiten vor den Unruhen in 2018, als der Tourismus sich gut entwickelte. Astreines Hochdeutsch. In den Redefluss fast ohne Pause eingebunden der Satz „Hilf mir bitte“. Dass Maurice Hilfe brauchen kann, erfordert keine weiteren Erläuterungen. Und dass er sie bei Touristen auf dem Hauptplatz sucht, ist bei seinen Sprachkenntnissen selbstverständlich. Alte Menschen, die betteln, schaue ich mir immer sehr viel aufmerksamer an als junge. Es gibt eine staatliche Altersversorgung, auf sehr niedrigem Niveau und wer aus welchen Gründen immer dann keine Familie hat, die unterstützt, kann kaum überleben. 100 Cordobas geben wir Maurice. 3 Dollar. Und der kleine Mann, der etwa mein Alter hat, fällt mir um den Hals, mit einer Freude, die mich lange berührt.

In jedem neuen Land, in jeder neuen Stadt dauert es etwas bis, wir uns sicherer fühlen, mutiger werden. Am dritten Tag in León sind wir dann auch abends unterwegs. Die Stadt bereitet sich auf ein Fest vor: Kleine Buden werden aufgebaut, Gruppen von 5 bis 7 Jugendlichen laufen durch die Stadt, je eine hochgewachsene weibliche und eine halb so große etwas pummelige Männerfigur werden von ihnen bespielt, führen Tänze auf, von Trommeln und Pauken begleitet. Am Hauptplatz wird eine meterhohe Version dieses ungleichen Paares errichtet. La Gigantona heißt die weiße hochgewachsene Dame. Sie stellt die stolze, große aber hochmütige Spanierin dar. Der kleine Mann mit dem dicken Kopf ist El Enano Cabezon. Er steht für den kleinen Nicaraguaner, der mit seinem großen Gehirn den Spaniern weit überlegen ist. Er sucht nach ihrer Gunst, blitzt aber ab. Trommler und Paukist gehören – auch ohne Kostüm – zu den tradierten Figuren. Es wird berichtet, dass bereits die Indianer diese große Frauenfigur geschnitzt haben, die dann – wie auch heute noch – nach der Musik tanzen musste, die die indigenen Trommler machten. In León gibt es in jedem Jahr einen Wettbewerb, welche Gruppe die besten Kostüme und Performances bietet.

Am Platz der Poeten findet heute eine besondere Veranstaltung statt, die auch für das Fernsehen aufgezeichnet wird. Die Mister und Misses de Nicaragua, Honduras, El Salvador, Guatemala, Panama und Costa Rica (es gibt jeweils mehrere, verschiedene Jahrgänge) präsentieren Trachten aus ihren Ländern in einer Art Catwalk. Es sind eher von Trachten inspirierte Kostüme und es gibt vor allen Dingen nackte Haut. Hätte ich nicht erwartet. Einige der sehr jungen Damen und Herren sind so aufgeregt, dass sie ihren Text vergessen. Irgendwie sympathisch. Nach dem Catwalk gibt es dann noch einen Fototermin mit Passanten. Alles sehr klein, sehr nah und unmittelbar. Es sind kaum mehr als 200 Menschen um den Platz. Und, obwohl es schon nach neun ist, Männer, Frauen aber auch Kleinkinder und Babys. Die schlafen dann eben über Papas Armen hängend… Aber sind dabei.

León will Stadt der Kirchen sein. Wir besuchen eine gut Handvoll, ganz unterschiedlich ausgestattet erleben wir die Grundausstattung an Bildern. Etwas außerhalb des Zentrums liegt eine der „Lieben Frau von Guadeloupe“ gewidmete Kirche. Mit dieser Heiligen hatten wir in Mexiko begonnen. Natürlich gehen wir hin. Hier bestehen die 14 Stationen der Passion aus verblichenen Fotokopien in einfachen Glasrahmen. In anderen Kirchen finden wir reich ausgearbeitete, dreidimensionale Holzschnitzereien.

Zwei Museen, die nicht verschiedener sein könnten, haben sich uns eingeprägt. Das erste ist skurril, ich finde es stellenweise eher makaber. Die Gründerin hatte die Absicht, volkstümliche Erzählungen zu bewahren. Die Geschichten und Legenden werden von schrägen, teils überlebensgroßen und überzeichneten Puppen verkörpert. Makaber ist der Ort. Auf der Suche nach einem angemessenen Ort, bekam besagte Gründerin das leerstehende Gefängnis zugewiesen, in dem während der (von der USA gestützten) Somoza-Diktatur gefoltert wurde. Dieser Teil der Geschichte ist in kurzen Texten und schwarzweißen Wandzeichnungen dokumentiert. Ein kleiner Raum und das Wrack eines Panzers im Eingangsbereich dokumentieren die Befreiung dieses Foltergefängnisses. Gleich nach der ersten Mauer rechts sind noch die Wasserbecken zu sehen, die für die Folter genutzt wurden. Transparent, grell farbig und ohne jede inhaltliche Verbindung darüber sind die eigenartigen Installationen von Puppen zu sehen. Jeder von ihnen oder jeder Gruppe ist ein Text in Spanisch und Englisch beigelegt, der die zugehörige Legende erzählt. Folterkeller meets Gebrüder Grimm im Jahrmarktstil. Ja – ich finde das makaber.

Das zweite Museum ist eine private Kunstsammlung europäischer und amerikanischer Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Und die hat es in sich. Gleich zu Beginn sagt man uns, dass die Sammlung 6 Häuser umfasst. Und so ist es tatsächlich. Wir brauchen fast vier Stunden für einen Rundgang. Vor uns wird das Licht an und hinter uns gleich wieder ausgeknipst. Was wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen: Strom ist extrem teuer in Nicaragua. Ohne Alarmanlage, ohne Distanzhalter, ohne andere Besucher können wir vor einem Picasso aus der blauen Periode stehen, vor einem ganzen Dutzend Mondrians, Bauhauskünstlern, einem Richter, einem Pollock, unzähligen Warhols… Und vielen unbekannten, manchen spannenden aus Lateinamerika. Im Reiseführer heißt es, es sei die bedeutendste Sammlung moderner Kunst in Mittel- und Südamerika. Nach dem Rundgang wollen wir das gerne glauben. Fotografieren dürfen wir leider nicht, es gibt auch keinen Katalog. Mir bleibt nichts als Namen für eine spätere Recherche ins Telefon zu tippen. Als wir durch sind, sind wir durch. Nicht nur Robert, der tapfer durchgehalten hat, auch ich kann nicht mehr wirklich gucken. Auf der Straße erwartet uns ein mildes Nachmittagslicht, Balsam für die angestrengten Augen.

Ein kulinarisches Highlight ist die vegane Küche von Coco Calala. Ebenfalls von einer weiblichen Expat geleitet, in einem wunderschönen Garten mit vielen grünen Pflanzen und einem Pool bekommen wir vegane Fisch-Tacos (frittierter Blumenkohl) – wunderbar. Weil wir zu Roberts Geburtstag für eine gute Woche an den Pazifik fahren, sind wir zweimal in León. Das gleiche Hostel, die gleichen Lokale. Und wir werden erkannt und freundlich begrüßt. Fast ein wenig wie nach Hause kommen.

Links

Geschichte Nicaraguas – Wikipedia

León (Nicaragua) – Wikipedia

León Cathedral, Nicaragua – Wikipedia

Museum of Traditions and Legends – Wikipedia

Cultura Fundación Ortiz Gurdian

La Gigantona – Nicaragua Community – Nicaragua Community

La gigantona Bailes Nicaraguenses Leon Nicaragua Centro America, Atelier Yoyita*